Prinzipien und Unterrichtsformen
Die Richtlinien der Schule für Geistigbehinderte sowie die Richtlinien zur Förderung schwerstbehinderter Schüler nehmen als Ausgangspunkt die speziellen Bildungsbedürfnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Sie bieten einen Lernzielkatalog an, der jene Fähigkeiten umschreibt, die unsere Schüler zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Lebenssituationen benötigen und deshalb im Laufe ihrer Schulzeit lernen sollten.
Die Richtlinien listen die Ziele lediglich auf. Sie geben keine Hinweise, auf welcher Stufe und in welchen Fächern bestimmte Lernziele zu behandeln sind und bieten nur vereinzelt unterrichtspraktische Vorschläge an. Außerdem weisen die Lernziele eine unterschiedliche Reichweite auf. Viele Lernziele sind nur in Unterrichtsreihen über Wochen, Monate oder gar Jahre in einem speziell ausgewiesenen Fach zu bewältigen (z.B. „Essbare Dinge“ erkennen, unterscheiden, beschaffen und herrichten), während andere wiederum nur „Stoff“ für wenige Stunden geben (z.B. „Kulturelle Einrichtungen und Veranstaltungen besuchen“). Einige Lernziele eignen sich überhaupt nicht für die Planung von unterrichtlichen Einheiten sondern stellen Erziehungsprinzipien dar, die immer gelten (z.B. „In Gegenwart anderer etwas tun“) und vor allem für den langfristigen Aufbau von Haltungen (z.B. Kritik annehmen können) wichtig sind.
Zielarten
Die Lernziele der Richtlinien können auf folgende Weise unterrichtlich behandelt werden:
· Sie werden in einem Unterrichtsvorhaben langfristig geplant und systematisch angegangen.
· Sie durchwirken als Prinzipien alle Unterrichts- und Erziehungsmaßnahmen.
· Sie werden bei pädagogisch fruchtbaren Gelegenheiten situativ aufgegriffen.
Unterrichtsgrundsätze
Bei der didaktisch-methodischen Umsetzung der Lernziele lassen wir uns von folgenden Grundsätzen leiten, wobei viele gleichzeitig angewandt werden.
Lebensnähe
Der Grundsatz der Lebensnähe gilt nicht nur für die Auswahl der Inhalte und Themen, sondern auch für die methodischen Mittel des Unterrichts. Wir lernen, indem wir konkrete Lebenssituationen bewältigen, und die verwendeten Lernmaterialen sind – soweit wie möglich – die Dinge des tägliches Lebens. Wir sortieren z. B. nicht nur Muggelsteine, sondern vielmehr Bestecke, Obstsorten u. ä.
Ganzheitliche Orientierung
Gegenstände und Sachverhalte werden in ihren natürlichen Sinnzusammenhängen erschlossen und sprechen den Schüler in seiner ganzen Persönlichkeit an. Eine entsprechende Unterrichtsform ist der Vorhabenunterricht (s. u.).
Das Prinzip der Ganzheitlichkeit reduziert den Unterricht nicht auf die Ebene einer Spiel- und Erlebnishaltung.
Lernen durch Tun
Dies ist für uns der wichtigste Grundsatz. Er kommt dem natürlichen Bewegungsbedürfnis und der sensomotorischen Ansprechbarkeit unserer Schüler entgegen. Durch konkretes eigenes Handeln (sehend, hörend, tastend, bewegend) muss der Schüler genügend Gelegenheit zum Sammeln von Erfahrungen erhalten. Das Tun ist von Funktionslust begleitet, führt schnell zu greifbaren Ergebnissen, zeigt Fehler oft sofort an und entspringt meist einem konkreten Anlass oder Bedürfnis. Unsere Schüler lernen Gegenstände des Lebens kennen, indem sie mit ihnen selbsttätig umgehen; sie lernen Handlungsabläufe, indem sie sie – immer wieder – tun.
Lernen „Schritt für Schritt“
Grundlegende Lebenssituationen (Gegenstände, Ereignisse, Abläufe, Sachverhalte) sind für Schüler mit geistiger Behinderung in der Regel zu komplex. Sie müssen unter didaktischen Gesichtspunkten in konkrete Einzelvorhaben und überschaubare Handlungssituationen aufgegliedert werden. Schwierigkeiten werden isoliert und Elemente einzeln gelernt, um sie dann (in hierarchisch aufgebauten Lernsequenzen) nacheinander zu behandeln. Dabei sollte immer der Zusammenhang zum Ganzen gewahrt bleiben, um die Übertragung von der Lern- auf die Lebenssituation zu begünstigen.
Lernen lernen
Unsere Leitidee zielt ab auf ein „selbständiges Handeln“, verstanden als das „eigenständige Orientieren, Planen, Organisieren, Durchführen und Reflektieren“ (SCHIMPKE 1994) von schulischen Arbeitsabläufen. Angepasst an den individuellen Strukturierungsbedarf (z. B. bei Schülern mit Autismus Spektrum Störung) geschieht die Förderung von Lernstrategien in vielen Fächern und auf unterschiedliche Weise z. B. beim selbständigen Herrichten des Arbeitsplatzes, durch offenen Unterricht (vorbereitete Lernumgebung, Freiarbeit, Stationenlernen, Lerntheke), durch Üben und Wiederholen in neuen Bezügen, durch Selbstkontrolle und Arbeitsrückblick.
Vielsinnigkeit
Das Anregen möglichst vieler Sinne (Seh-, Hör-, Tast-, Tiefen, Geruchs-, Geschmacks-, Gleichgewichts-, Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn) hilft, die Dinge intensiver und vollständiger zu erfassen. Es berücksichtigt, dass unsere Schüler auf sehr unterschiedliche Weise die Gegenstände ihrer Umwelt wahrnehmen. Der Einsatz verschiedener Sinnesreize begünstigt, dass Assoziationen verknüpft werden und Bedeutungszusammenhänge entstehen.
Anschauung
Bei der unterrichtlichen Auseinandersetzung unserer Schüler mit der Umwelt berücksichtigen wir die unterschiedlichen Lernniveaufstufen (nach LEONTJEW):
1. Stufe: sinnlich – wahrnehmend (Aufnehmen mit allen Sinnen)
2. Stufe: aktiv – handelnd (Erleben und Erproben)
3. Stufe: bildlich – darstellend (Abbilden durch Bild, Schema, Symbol)
4. Stufe: begrifflich – abstrahierend (Verbalisieren)
Handlungsbegleitendes Sprechen
Wir halten es für wichtig, Handlung, sinnliche Wahrnehmung und Sprache miteinander zu verbinden. Die Sprache ist neben der Veranschaulichung und dem Vormachen das wichtigste Vermittlungsinstrument. Die Koppelung von Handlung und Sprache fördert das Vorstellungsvermögen und das Verinnerlichen der Handlung. Selbst für Schüler, die uns nicht verstehen, hat Sprache einen Sinn. Sie bedeutet Zuwachs an Leben und schafft Zutrauen.
Individualisierendes Lernen
Die extrem unterschiedliche Schülerschaft macht eine ständige Differenzierung notwendig. Äußere Differenzierung nach Leistungskriterien wird – zugunsten des Lernens im Klassenverband – bei uns nur im kulturtechnischen Bereich angewandt. Aber selbst, wenn Schüler in möglichst homogene Lerngruppen eingeteilt werden – klassenübergreifend oder klassenintern – müssen immer zusätzliche innere Differenzierungsmaßnahmen ergriffen werden.
Wir können differenzieren:
· die Dauer der aktiven Teilnahme
· den Schwierigkeitsgrad der Anforderungen
· die Anzahl der Aufgaben
· die Hilfs- und Lernmittel
· das Ausmaß und die Art der Lehrerhilfe
Festigung
Neues wird erst dann fruchtbar, wenn es mit dem bereits vorhandenen Lernbestand sinnvoll verbunden und das bisher Gelernte damit auf ein höheres Niveau gebracht wird. Dies setzt voraus, dass das bisher Gelernte sicher gekonnt wird. Daher kommt dem Üben und Festigen eine ganz besondere Bedeutung zu. Dabei geht es nicht um ein einfaches Wiederholen. Vielmehr sollte das Festigen – wegen der Transferprobleme unserer Schüler – in immer wieder neuen Varianten erfolgen, aber erst dann, wenn die vorhergehende Übungsform sicher beherrscht wird. Das Prinzip der Festigung bedingt, dass ein Großteil der Unterrichtszeit zum Üben und Festigen bekannter Inhalte gebraucht wird. Eine entsprechende Unterrichtsform ist das Training (s. u.).
TEACCH (Treatment Education Autistic Communication handicaped Children)
Für unsere Schüler mit autistischen Verhaltensweisen versuchen wir zunehmend die Prinzipien des TEACCH-Ansatzes zu berücksichtigen:
· Strukturierung
· Visualisierung von Raum, Zeit und Arbeitsabläufen
· Individualisierung
Unterrichtsformen
Wir praktizieren folgende Unterrichtsformen, die nicht scharf voneinander zu trennen sind sondern sich oft überschneiden und im Alltag ergänzen.
a. Vorhaben
o handlungs- und produktorientierter Aufbau
o fächerübergreifend angelegt
o erwachsen aus einer Lebenssituation der Schüler
o behandeln lebensbedeutsame Inhalte (Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung)
o bieten den Schülern die Möglichkeit mitzuplanen und Verantwortung zu tragen
o das, was die Schüler bisher gelernt haben, können sie in einem Vorhaben anwenden
b. (Kurz-)Lehrgang
o Erlernen von neuen Handlungsabläufen und Sachzusammenhängen - entwicklungsbezogener, systematischer Aufbau
c. Training
o Basale Stimulation
o Verhaltenstraining
o alle Aktivitäten, die der Übung und Festigung von Gelerntem dienen
d. Fachorientierter Lehrgang (FOL)
o fachspezifisch ausgerichtet
o systematisch aufgebaut
o wird in der Regel für das ganze Schuljahr eingerichtet
o je nach FOL homogene oder heterogene Leistungsgruppen; bei Teilnahme von Schülern mit schwerer gb/kb Behinderung gelten individuelle Förderschwerpunkte mit fachspezifischem Inhalt (z. B. im FOL Hauswirtschaft: Förderung des Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Tiefensinns mit Hilfe von Nahrungsmitteln und Küchengeräten)
o je nach Schwerpunkt klassenübergreifend oder klassenintern
e. Arbeitsgemeinschaften (AGs)
o entwickeln und vertiefen Schülerinteressen
o fördern individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse
o greifen Inhalte auf, die am ehesten in einer interessen- und leistungsgleichen Gruppe umgesetzt werden können
o sind klassenübergreifend zusammengesetzt
o werden meistens für ein Schuljahr vorwiegend in den oberen Stufen eingerichtet