Pädagogische Grundorientierung
Unser pädagogischer Auftrag wird in beiden für unsere Schulform gültigen Richtlinien als „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ bezeichnet (KM NRW 1980 & 1985). Damit unterscheidet er sich grundsätzlich nicht von dem allgemeinbildender Schulen, wird aber unserer besonderen Schülerschaft entsprechend anders als an anderen Schulformen umgesetzt.
Für Schüler, Eltern, Lehrer und alle am Schulleben der Neumühlenschule Beteiligte drücken wir den pädagogischen Auftrag wie folgt aus:
„Gemeinsam Leben lernen in der Schule“
Dieser Leitgedanke beinhaltet wesentliche Merkmale der Neumühlenschule:
o Wir sind eine Schule mit vielen Besonderheiten
o Wie in allen anderen Schulen ist unsere Aufgabe das Lernen bzw. das Ermöglichen von Lernen.
o Wir lernen leben, d.h. Schüler erwerben im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten Kenntnisse und Fähigkeiten zur Bewältigung des Lebens mit der Behinderung (vgl. KMK 1998).
o Schulisches Lernen findet immer in Gemeinschaft statt; an der Neumühlenschule hat das gemeinsame Lernen einen besonders hohen Stellenwert.
Alle Förderschwerpunkte, seien es Unterrichtsinhalte oder erzieherische Maßnahmen, sind folgerichtig nur dann gerechtfertigt, wenn sie für den Schüler entweder jetzt und/oder in Zukunft bedeutsam sind; sie müssen also mit dem Leben dieses Schülers zu tun haben.
Der Leitgedanke spiegelt sich auch in den fünf Leitzielen der beiden für uns zutreffenden Richtlinien wider. Wir formulieren sie so:
o Leben lernen – sich selbst wahrnehmen und erfahren
o Leben lernen – sich selbst versorgen
o Leben lernen – in der Umwelt
o Leben lernen – in der Gemeinschaft
o Leben lernen – im Spiel, in der Freizeit, bei der Arbeit
Die Umsetzung dieser Leitziele orientiert sich an unserer Schülerschaft. Diese unterscheidet sich nicht nur durch den Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ von der anderer Schulen:
Unsere Schüler erfüllen ihre gesamte Schulpflicht an ein und derselben Schule. Wir sind eine Schule für Kinder im Grundschulalter, für Jugendliche und für junge Erwachsene, da die Schulbesuchszeit bis zum Erreichen des 25. Lebensjahres verlängert werden kann. Organisation und Angebote der Schule müssen also sowohl für sechsjährige Kinder wie für 14 jährige Teenager und 22 jährige Erwachsene angemessen sein.
Unsere Schüler unterscheiden sich nicht nur im Alter, sondern auch in ihren Lebens- und Lernmöglichkeiten. Allen Schülern gemeinsam ist natürlich die geistige Behinderung. Diese beeinträchtigt alle Entwicklungsbereiche, dies aber in unterschiedlichen Ausprägungsgraden. Wir haben Schüler, die vom kognitiven Verständnis her im Grenzbereich zur Lernbehinderung liegen, aber auch Schüler, die eine schwere geistige Behinderung haben oder aber eine schwere Mehrfachbehinderung.
An der Neumühlenschule unterscheiden wir intern fünf Schülergruppen; Schüler können mehr als einer Gruppe zugehörig sein:
o Schüler mit einer durchschnittlichen geistigen Behinderung, also unsere „klassischen“ Schüler;
o Schüler, deren Behinderung an der Grenze zur Lernbehinderung liegt; diese haben fast immer einen oder mehrere Schulwechsel hinter sich. Sie sind häufig entmutigt und haben Schwierigkeiten in der Selbstwahrnehmung und im Sozialverhalten;
o Schüler mit einer schweren Mehrfachbehinderung; diese sind nicht nur in den geistigen und motorischen Fähigkeiten stark beeinträchtigt, sondern auch in ihrer seelischen Entwicklung. Sie haben häufig auch eine Sinnesbeeinträchtigung. Diese Schüler sind in besonderer Weise bei alltäglichen Verrichtungen auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen.
Immer wieder werden einige wenige Schüler durch Hausunterricht versorgt. Sie gehören in der Regel zum Personenkreis der Schüler mit einer schweren Mehrfachbehinderung (vgl. MSJK 2005).
o Schüler, deren Lautsprache nicht vorhanden oder so schwer verständlich ist, dass sie auf zusätzliche Kommunikationshilfen wie Gebärden, Kommunikationstafeln oder Talker (Geräte mit elektronischer Sprachausgabe) angewiesen sind;
o Schüler, die Autisten sind, ausgeprägte autistische Verhaltensweisen zeigen oder „Individualisten“ sind; viele von ihnen sind als schwerstbehindert anerkannt und haben u.a. Förderbedarf im Bereich Wahrnehmung und Emotionalität, Anpassungsfähigkeit und Kommunikation (vgl. MSJK 2005);
Die Schüler mit Autismus werden als Gruppe genannt, da Autismus laut Ausbildungsverordnung eine eigenständige Behinderungsform ist. Wir fassen sie als Gruppe mit den Schülern mit autistischen Verhaltensweisen und den „Individualisten“ zusammen, da sie ähnliche Unterstützung benötigen (vgl. MSJK 2005).
Uns geht es nicht darum, Schüler in Gruppen einzuteilen, sondern wir wollen uns die unterschiedlichen Lehrvoraussetzungen und Lebensbedingungen unserer Schülerschaft bewusst machen, um allen Schülern geeignete Lernangebote machen zu können. Nur so können wir unserem Leitgedanken „Gemeinsam Leben lernen in der Schule“ entsprechen.
Auch die Klassenbildung hat diesen Leitgedanken im Blick. Wir organisieren – wie an anderen Schulen auch – den Unterricht in Klassen, diese entsprechen aber nicht Jahrgangsklassen, sondern sind in dem 11-jährigen Bildungsgang Stufen zugeordnet, nämlich Vor-, Unter-, Mittel-, Ober- und Berufspraxisstufe (vgl. MSJK 2005).
Jeder Schüler verbleibt mehrere Jahre in einer Stufe. In § 2 AO-SF ist folgender Zeitrahmen vorgegeben:
o 2 Jahre Vorstufe
o 3 Jahre Unterstufe
o 3 Jahre Mittelstufe
o 3 Jahre Oberstufe
o Anschließend Berufspraxisstufe (vgl. MSJK 2005)
Die tatsächliche Klassenbildung ist ein hochkomplexer Vorgang. Die Entlassung einzelner Schüler aus der Abschlussstufe und die Aufnahme von Schulanfängern und/oder Seiteneinsteigern, gewöhnlich durch Umzug oder Wechsel des Förderschwerpunktes bedingt, stellt uns alljährlich vor die Aufgabe, Schüler in andere Klassen zu versetzen oder Klassen neu zu bilden. Diesem Prozess messen wir eine hohe Bedeutung zu – schließlich ist die Klasse als „Kernzelle“ die wichtigste Gruppe der Schule. Wir nehmen uns dafür in verschiedenen Konferenzen viel Zeit (ð jährliche Neuordnung der Klassen und Verteilung der Lehrstunden). Nur so kann es gelingen, den Bedürfnissen des Einzelnen gerecht zu werden, aber auch funktionierende Klassen unter kommunikativen und sozialen Gesichtspunkten einzurichten. Darüber hinaus achten wir durch klassenübergreifende Lerngruppen in verschiedenen Fächern und interne Differenzierungsmaßnahmen darauf, dem Förderbedarf des einzelnen Schülers gerecht zu werden .
Bei der jährlichen Neubildung der Klassen verzichten wir also bewusst auf eine starre Zeitvorgabe für die Verweildauer in einer Klasse, da der einzelne Schüler mit seinem individuellen Förderbedarf im Mittelpunkt diesbezüglicher Entscheidungen steht. Jeder Wechsel hängt nicht nur mit Alter und den damit korrespondierenden Schulbesuchsjahren, sondern auch mit dem Entwicklungsstand des Schülers zusammen. Eine Versetzung bzw. Nichtversetzung gibt es nicht.
Unsere Art der Klassenbildung hat zur Folge, dass Schüler im Laufe ihrer Schulzeit immer wieder mit unterschiedlichen Menschen zusammen treffen, seien es Lehrer oder Schüler. So lernen sie, mit Veränderungen umzugehen. Gleichzeitig dürfen sie durch zu häufige Wechsel ihnen bekannter und vertrauter Personen nicht überfordert werden.
Seit 2005 haben wir für unsere Schulanfänger im 1. und 2. Schulbesuchsjahr Vorstufen-klassen eingerichtet und ein Vorstufenkonzept entwickelt.
Zurzeit haben wir keine eigenen Klassen für Kinder und Jugendliche mit einer Schwerstmehrfachbehinderung. Wir bevorzugen eine gemeinsame Förderung aller Schüler in gemischten Klassen. Das erfordert einen hohen Grad an innerer und äußerer Differenzierung. Diese Art der Klassenbildung hat aber ihre Grenzen, wenn Schüler besondere Schonräume brauchen und wird deshalb nicht als unumstößliches Prinzip gesehen.
Im Anschluss an den 11-jährigen Bildungsgang in Vor-, Unter-, Mittel- und Oberstufe erfüllen unsere Schüler ihre Berufsschulpflicht in der Berufspraxisstufe
Wir verwendeten intern lange den alten Begriff Werkstufe, aus verschiedenen Gründen:
Zum einen ist er kurz und für unsere Schüler einfach auszusprechen. Der neue Begriff Berufspraxisstufe suggeriert fälschlicherweise, dass der Schüler einen Beruf erlernen könnte und kann Verwirrung bei den Erziehungsberechtigten und Schülern stiften, die ihre eigenen Leistungen bzw. die ihres Kindes überschätzen (vgl. MSJK 2005). Hinzu kommt, dass die Aufgabe der Abschlussstufe nicht nur die Vorbereitung auf die Arbeit ist, sondern gleichermaßen auch die Vorbereitung auf Wohnen und Freizeit umfasst. Weiterhin ent-spricht der Begriff Werkstufe dem Namen des mit großer Wahrscheinlichkeit späteren Arbeitgebers „Werkstatt für behinderte Menschen“ (WfbM). Entlassschüler unserer Schulform haben einen Anspruch vom Gesetzgeber auf einen Arbeitsplatz in einer WfbM.
Inzwischen hat sich der Begriff „Berufspraxisstufe“ zunehmend etabliert. Daher haben wir ihn seit Sommer 2011 in unseren Sprachgebrauch übernommen.
Nach Vollendung des 18. Lebensjahres sind die Schüler berechtigt, aber nicht verpflichtet die Schule weiter zu besuchen, höchstens bis zum 25. Lebensjahr. Die Klassenlehrer überlegen gemeinsam mit dem Schüler, soweit möglich, und dessen Erziehungsberechtigten, ob eine Verlängerung der Schulpflichtzeit sinnvoll erscheint und versuchen, zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Eine Verlängerung der Schulpflicht wird nur dann erfolgen, wenn die Klassenlehrer meinen, dass der Schüler so dem Ziel des Bildungsgangs näher gebracht werden kann. Auch hier gibt es keine starre Regelung, sondern das Wohl des jungen Erwachsenen steht im Mittelpunkt der Entscheidung. So bewegt sich das Schulentlassalter im Allgemeinen zwischen 18 und 22 Jahren.
Mit Beginn des Schuljahres 2005/2006 beschreiben wir für jeden einzelnen Schüler in einem Förderplan dessen persönliche Förderschwerpunkte und –ziele.
Neu sind nicht die Förderpläne an sich, sondern deren gesetzliche Verankerung und die Verpflichtung, sie für jeden Schüler schriftlich zu formulieren und regelmäßig auszuwerten. Hier steht der Schüler als Individuum mit seinen Stärken und Schwächen im Zentrum (vgl. MSJK2005). Wir haben schuleigene Bedingungen für die Individuellen Förderpläne abgesprochen. Wichtigste Kernpunkte sind, dass
o sie mindestens zwei und höchstens vier Schwerpunktsetzungen haben,
o dass die Ziele sich an der Leitidee des Schulprogramms orientieren,
o dass hochgradige Mehrfachbehinderungen unbedingt berücksichtigt werden,
o dass bei allen Schülern mit Förderbedarf im Bereich Kommunikation dieser aufgenommen werden muss,
o dass bei Berufspraxisstufenschülern die Bereiche Vorbereitung auf Arbeit und Wohnen zu berücksichtigen sind.
Ergänzt werden diese Förderpläne durch die mittelfristigen Bildungspläne, bei der die jeweiligen Fächer für Lerngruppen oder die Gesamtklasse im Blick stehen.
In den jährlichen Zeugnissen zum Schuljahresende werden die Leistungen ohne Notenstufen beschrieben. Die Bewertung bezieht sich auf die Ergebnisse des Lernens sowie die individuellen Anstrengungen und Lernfortschritte (AO-SF § 34). Sie ist Grundlage für die weitere Förderung des Schülers.
Die Lernfortschritte der einzelnen Schüler entsprechen nicht zwangsläufig den Schulbesuchsjahren. Immer wieder beobachten wir Phasen des Stillstandes oder Rückschritte, aber auch regelrechte „Lernsprünge“. Deswegen halten wir es nicht für sinnvoll, einzelnen Stufen bestimmte Lernziele zuzuordnen; die Stufe selbst sagt nicht direkt etwas über die Entwicklungs- und Lernfortschritte oder das Lernniveau des einzelnen Schülers aus.
Wir wagen dennoch den Versuch, um die Entwicklung unserer Schüler und die Übernahme von Verantwortung für sich selbst mit zunehmendem Alter zu zeigen (KM NRW 1980 & 1985):
Vorstufe und Unterstufe |
Kinder im Grundschulalter |
Vertraut werden mit der Schule soziales Lernen Einübung grundlegender lebenspraktischer Verhaltensweisen Anbahnung und Einübung von Arbeitstechniken Spiel |
Mittelstufe |
Kinder/Beginn Pubertät |
Pubertät Übernahme von Verantwortung Erschließen der Sachwelt Freundschaften |
Oberstufe |
Jugendliche |
Selbstständigkeit Erwachsenwerden Erschließen der Sachwelt |
Berufspraxisstufe |
Junge Erwachsene |
Erwachsensein Arbeitswelt Wohnen Freizeit Partnerschaft |
Der Leitgedanke „Gemeinsam Leben lernen in der Schule“ kann nur in einer Ganztagsschule sinnvoll verwirklicht werden. Hier ergeben sich auf natürliche Weise Lebens- und damit auch Lernsituationen, die unsere Schüler bewältigen müssen: sich selbst versorgen, Freizeit zu gestalten, Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum zu erleben. Diese lassen sich nicht in ein für alle verbindliches Zeitkorsett einengen. Daher verzichten wir bewusst auf strenge Zeitvorgaben, wie sie im Arbeitszeiterlass vorgesehen sind, z.B. Klingel- oder andere Pausenzeichen, aber halten uns an einen pädagogischen Grundsatz unserer Richtlinien, nämlich dass „der Unterricht an der Schule für Geistigbehinderte alle Lernsituationen umfasst, die sich in Klassenzimmer, im Schulgebäude, auf dem Schulgelände und unter Aufsicht des pädagogischen Personals auch außerhalb des Schulgeländes ereignen“ (KM NRW 1980 & 1985). Diese freie Gestaltung des Unterrichtstages setzt eine hohe Verantwortung auf Seiten der Lehrer voraus; die Schüler lernen dabei, eigenverantwortlich zu handeln.
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